27. Mai 1967: Schon nach dem 0:0 im vorletzten Spiel gegen Rot-Weiß Essen ist Eintracht Braunschweig die Deutsche Meisterschaft praktisch nicht mehr zu nehmen. Denn am 34. Spieltag treffen die beiden härtesten Verfolger Eintracht Frankfurt und 1860 München im direkten Duell aufeinander. Doch die Niedersachsen machen den Sack höchstpersönlich zu, gewinnen mit 4:1 gegen den 1. FC Nürnberg und versetzen die rund 40.000 Zuschauer an der Hamburger Straße in einen beispiellosen Freudentaumel.

„Die Leute saßen auf den Flutlichtmasten, in den Pappeln und vor den Barrieren auf der Aschebahn“, erinnerte sich Klaus Meyer (1937-2014) in einem Interview, dass der Abwehrspieler der Meistermannschaft 2009 mit dem damaligen VfL-Stadionmagazin „DRIN!“ führte.

„Nach dem Schlusspfiff brachen dann alle Dämme, Tausende Menschen stürmten auf den Platz – wir konnten nicht einmal eine gemeinsame Ehrenrunde drehen.“ Aber die Braunschweiger gingen äußerst fürsorglich mit ihren Helden um. Als die Spieler, mit nagelneuen Anzügen ausgestattet, in einem Autokorso durch die Stadt fuhren, zogen viele Menschen, die dicht an den Cabrios vorbeiliefen, ihre Jacken und Mäntel aus, um die Fußballer vor dem Regen zu schützen. „Das war einfach unglaublich, so etwas habe ich nie wieder erlebt“, erzählte Meyer.

Dabei war das Gründungsmitglied der Bundesliga als krasser Außenseiter in die Saison 1966/67 gestartet. Sogar unter modischen Gesichtspunkten erregte man vielerorts nur mitleidiges Achselzucken. Die Eintracht habe noch die alten Baumwollhemden getragen, die im Regen immer kleiner wurden, als andere Vereine schon „in tollen Glitzertrikots“ aufliefen, erinnerte sich Eintracht-Tormann Horst Wolter.

Dem kleinen Kader, der allerdings mit fünf Nationalspielern bestückt war, trauten die wenigsten Fußballexperten besondere Leistungen zu, und tatsächlich konnten sich die „Löwen“ vor dem gegnerischen Tor nicht allzu häufig in Szene setzen. Lothar Emmerich (Borussia Dortmund) und Gerd Müller (Bayern München), die sich mit je 28 Treffern die Torschützenkrone teilen mussten, trafen zusammen häufiger ins Schwarze als die gesamte Braunschweiger Meistermannschaft (49 Tore).

Mit drei ausgemachten Konterspielern blieb die Eintracht trotzdem stets gefährlich. Lothar Ulsaß (14 Saisontore), Erich Maas (11 Saisontore) und Gerd Saborowski (8 Saisontore) waren immer für einen Treffer gut – und viel mehr Tore brauchte die Mannschaft selten. Schließlich agierte sie auf Anweisung von Cheftrainer Helmut Johannsen mit einer ausgefeilten Defensivtaktik und ließ in 34 Spielen nur 27 Gegentreffer zu. Der Catenaccio niedersächsischer Prägung war nicht nur erfolgreich, sondern auch in Sachen Fairness absolut vorbildhaft. Von der Bundesligagründung 1963 bis zum ersten Abstieg 1974 kassierte Eintracht Braunschweig in 322 Erstligapartien keine einzige rote Karte.

Duell mit Juventus Turin

Mannschaftliche Geschlossenheit, Disziplin und eine fast familiäre Atmosphäre trugen wohl wesentlich zum Überraschungserfolg bei. Die Spieler bekamen seinerzeit ein monatliches Grundgehalt von 1.200 Mark nebst einer Siegprämie von 250 Mark – finanzielle Überlegungen spielten in jenen Jahren noch eine untergeordnete Rolle. „Keinem Spieler ging es um die 3.000 Mark Meistergeld, die wollten beweisen, dass sie es schaffen können“, schwor der 1998 verstorbene Trainer Johannsen.

Die oft geäußerte Befürchtung, dass der Underdog im Europapokal der Landesmeister untergehen könnte, erwies sich dann auch als gänzlich unbegründet. 1967/68 stieß Braunschweig bis ins Viertelfinale vor, bezwang den italienischen Meister Juventus Turin an der Hamburger Straße mit 3:2 und kassierte im Rückspiel eine denkbar knappe 0:1-Niederlage. Da Auswärtstore im europäischen Wettbewerb noch nicht doppelt gezählt wurden, kam es am 20. März 1968 zu einem Entscheidungsspiel im legendären Berner Wankendorf-Stadion. Turin konnte sich erneut mit 1:0 durchsetzen, doch die tapferen Braunschweiger erwarben sich bei den 48.000 Stadionbesuchern und Millionen Fernsehzuschauern einmal mehr viele Sympathien.


Text: Thorsten Stegemann
Bilder: Großer Bahnhof für den Deutschen Meister in Braunschweig © Helmut Wesemann / Mannschaftsfoto 1966/67 © Fritz Rust