Ludovit Reis, der noch gestern für Jong Orange auflief, ist der jüngste Nationalspieler des VfL. Aber er war natürlich nicht der erste. Der Kicker, der sich zum ersten Mal neben dem Trikot der Lila-Weißen auch das einer Nationalmannschaft überstreifte, hieß Matthias (Mattes) Billen.

Wie hätten sich die Programmplaner wohl entschieden, wenn am 27. September 1936 schon in jedem Haushalt ein Fernseher gestanden hätte? Ein Länderspiel der Fußball-Nationalmannschaft wäre sicher übertragen worden. Aber welches? Die DFB-Auswahl spielte an diesem Tag in Prag gegen die Tschechoslowakei – und in Krefeld gegen Luxemburg.

Vermutlich wäre die Wahl auf Prag gefallen, wo Reichstrainer Otto Nerz und 42.000 Zuschauer einen 2:1-Erfolg der Gäste sahen. Doch die Partie gegen Luxemburg, die vom späteren Bundestrainer Sepp Herberger betreut wurde, war aus Osnabrücker Sicht ungleich interessanter. Denn in Krefeld kam der erste VfL-Spieler der Vereinsgeschichte zu einem regulären Länderspieleinsatz. Auch wenn Matthias Billen, neben dem unter anderem auch Schalke-Legende Ernst Kuzorra auf Torejagd ging, keinen Treffer zum 7:2-Sieg beisteuerte, hinterließ der „Halbrechte“ einen starken Eindruck.

Für die große Länderspielkarriere reichte es trotzdem nicht. Otto Nerz, der Billen bereits 1934 eingeladen, den kompakten Stürmer dann aber doch nicht zur Weltmeisterschaft nach Italien mitgenommen hatte, strich den Osnabrücker auch diesmal aus seinem Notizbuch. Er bestritt in den folgenden Jahren zwar zahlreiche Repräsentativspiele für die westdeutsche und die niedersächsische Auswahl, doch ein zweiter Einsatz im DFB-Dress blieb ihm verwehrt. „Mattes“ nahm es gelassen: „Das schönste war sowieso der Aufstieg in die Gauliga!“

Der VfL wird lila-weiß – und Meister!

Dieser gelang dem VfL 1937. Billen war ein Jahr zuvor als Soldat in die Garnisonsstadt Osnabrück gekommen. Der gebürtige Duisburger wechselte von Hamborn 07 zur „Gartlager Elf“, die alsbald für Furore sorgte. 1937 gewannen die Osnabrücker die Meisterschaft in der Bezirksliga und qualifizierten sich für die Aufstiegsrunde zur Gauliga Niedersachsen. Nach einem 0:0 gegen den SV Blumenthal und einer 1:2-Pleite beim Lüneburger SK rückte das große Ziel in weite Ferne, doch in den Rückspielen zeigte sich der VfL von seiner nervenstarken Seite. Dem 2:1-Sieg in Blumenthal folgte ein spektakuläres 8:2 gegen Lüneburg und der Aufstieg in die seinerzeit erstklassige Gauliga.

Hier bekam der VfL Verstärkung aus der Nachbarschaft, wobei die Sportpolitik der Nazis, die auf die Bildung von Großvereinen zielte, sicher eine (noch genauer zu erforschende) Rolle spielte. Der SC Rapid, der sich 1925 abgespalten hatte, beschloss am 22. Juni 1938 die Wiedervereinigung mit dem Stadtrivalen, der nicht nur die lila-weißen Vereinsfarben, sondern auch zahlreiche Leistungsträger übernahm. Der neu formierte VfL ging mit dem Herberger-Freund Walter Hollstein in die neue Saison und verwies neben Werder Bremen auch Eintracht Braunschweig und den amtierenden Deutschen Meister Hannover 96 auf die Plätze.

Der 3:0-Erfolg gegen den haushohen Favoriten am 26. Februar 1939 zählt bis heute zu den denkwürdigsten Spielen der Vereinsgeschichte. „Mattes“ Billen erlebte es – mit den Kollegen Flotho, Coors, Sausmikat, Westerhaus, Zuback, Schulte, Meyer, Vetter, Simon und Hammersen – aus nächster Nähe und ging wie immer an seine Leistungsgrenze. Das „Osnabrücker Tageblatt“ hatte ihn schon vor dem Topspiel in den höchsten Tönen gelobt:

Wer ihn einmal im Spiel sah, wird ihm die Achtung nicht versagen können. Denn dieser untersetzte, stämmige, schwer wirkende Halbstürmer, der ein meisterhafter Dribbler ist, arbeitet zugleich 90 Minuten lang wie ein Pferd. Er ist ein Ankurbler des Angriffs, der sich nicht geniert, den Ball in mulmiger Situation aus der eigenen Deckung herauszuholen, und nach vorn zu bringen. (…) Wenn er noch mehr schösse – und der Matthes kann schießen, weiß Gott, dann wäre er der Abgott der Jugend Osnabrücks.
Osnabrücker Tageblatt, 26. Februar 1939

Die Meisterschaft war nicht das einzige Erfolgserlebnis in dieser Spielzeit. Besondern gern erinnerte sich Billen auch an den 3:2-Pokalerfolg gegen die schier übermächtige „Startruppe“ von Schalke 04. Nur die Endrunde um die Deutsche Meisterschaft, an der die Lila-Weißen als Erstplatzierter der Gauliga teilnehmen durften verlief nicht nach dem Geschmack des Stürmers. Er selbst musste verletzt pausieren, und sein Verein durfte wegen des zu kleinen Platzes an der Gartlage nur ein Heimspiel austragen. Trotzdem belegte der VfL einen beachtlichen 2. Platz – hinter dem Hamburger SV, aber vor Hindenburg Allenstein und Blau-Weiß 90 Berlin.

Auch in der folgenden Saison, die bereits vom beginnenden Zweiten Weltkrieg überschattet wurde, belegte Billen mit dem VfL Platz 1 in der Gauliga Niedersachsen. In der Bereichsklasse Nord fanden sich allerdings nur noch fünf Gegner, und in der Endrunde um die Deutsche Meisterschaft mussten die Osnabrücker dem Dresdner SC und dem Eimsbütteler TV den Vortritt lassen. Diesmal rangierte nur der 1. SV Jena hinter den Lila-Weißen.

Die Annalen verzeichnen auch 1940/41 noch eine Gauliga-Meisterschaft des VfL, doch dann verlieren sich die Spuren des Vereins und „Mattes“ Billens in den Untiefen einer Zeit, in der sich Deutschland anschickte, den Globus zu verwüsten. Während des Krieges spielte der Fußball naturgemäß keine wesentliche Rolle mehr – verlässliche Statistiken sind nicht überliefert.

Neuanfang

Nach dem Ende von Weltkrieg und Nazi-Terror war Matthias Billen zur Freude des Osnabrücker Publikums wieder zur Stelle. Er leistete Aufbauarbeit im wahrsten Sinne des Wortes. Der zum „FSV“ umbenannte VfL nahm bereits 1945/46 an einer Stadtmeisterschaft teil, belegte ein Jahr später den 2. Platz in der Oberliga Niedersachsen hinter den erklärten Nicht-Niedersachsen von Werder Bremen und startete dann – wieder als „Verein für Leibesübungen“ – in die erstklassige Oberliga Nord.
Hier absolvierte „Mattes“ seine letzten Einsätze im Dress der Lila-Weißen und erzielte fünf der neunundvierzig Tore, die den VfL im Rennen um Platz 4 hielten, der zur Teilnahme an der sogenannten „Zonenmeisterschaft“ berechtigt hätte.

Am 2. Mai 1948 kam es vor 12.000 Zuschauern zum Entscheidungsspiel gegen Werder Bremen im neutralen Hannover. Die Kicker von der Weser führten zur Pause mit 2:0, dann gelang dem altgedienten „Mattes“ Billen der erhoffte Anschlusstreffer. Doch aus diesmal reichte es nicht ganz. Bremens Reinhard Heinrich erzielte per Elfmeter das 3:1, aber die Osnabrücker konnten trotzdem zufrieden sein. Nach Jahren im Niemandsland spielten sie wieder im Konzert der Großen – auf Augenhöhe mit dem Hamburger SV, dem FC St. Pauli und Werder Bremen.

Im Alter von 39 Jahren beendete Billen seine aktive Laufbahn. Anfang der 50er ließ sich der gelernte Verwaltungsangestellte zum Fußballehrer ausbilden, wohnte in der Kirchstraße und betreute in der Region unter anderem Ballsport e.V. Eversburg, den SV Rasensport, den SV Ibbenbüren, Tura Melle oder die Sportfreunde Oesede.

„Der Fußball hält mich jung“, behauptete er oft, und tatsächlich sah man ihn nicht nur bei den Spielen „seiner“ Vereine, sondern auch immer wieder an der Bremer Brücke, die für ihn – nach zwölf oft schweren Jahren – eine fußballerische Heimat geworden war. Der erste Nationalspieler des VfL Osnabrück starb am 1. Juli 1989 im Alter von 80 Jahren.

Text: Thorsten Stegemann

Bild (Mattes Billen – rechts – mit Torwart Heinz Flotho nach dem 3:0-Sieg gegen Hannover): VfL-Museum